Varanasi – Tod am Ganges
Nach Varanasi kommt man zum Sterben. Hindus glauben, dass sie Erlösung erfahren, wenn sie in dieser indischen Stadt ihr Ende finden. Gläubige Familien bringen hier ihre Toten hin, um sie an den Ufern des Ganges zu verbrennen und die Überreste dem Fluss zu übergeben.
„Varanasi ist älter als Geschichte, älter als Tradition, sogar älter als Legenden und sieht dabei zweimal so alt aus wie alles zusammengenommen“ hat Mark Twain nach seiner Reise 1896 dorthin gesagt. Wie alt Varanasi, die Heilige Stadt am Ganges, tatsächlich ist, weiß niemand so genau. Einheimische sprechen von 5.000 Jahren, es gibt Belege für eine Stadtgründung 1.500 vor Christus.
Fest steht, dass Varanasi zu den ältesten durchgehend bewohnten Orten auf der Erde gehört. Für die Hindus ist diese Stadt ein Pilgerzentrum. Der Legende nach ist dies der Sitz von Shiva, dem Gott der Zerstörung, der Schlangen als Schmuck trägt und eine Vorliebe für haschgefüllte Chillums hat. Aber auch wenn hier cannabishaltiges Bhang, Opium und Stechäpfel zu den angepriesenen Waren auf den Basaren gehören, brauchen westliche Besucher hier keine bewusstseinsverändernden Substanzen, um sich wie auf einem anderen Planeten zu fühlen.
Varanasi hinterlässt unzählige Eindrücke
Im Laufe der Jahrhunderte hat sich ein Irrgarten aus Steinbauten verschiedenster Stile, großen und kleinen Tempeln, überfüllten Marktstraßen und Gassen gebildet. Bevölkert ist das Labyrinth mit Schwärmen von orange gekleideten hinduistischen Pilger, weiß getünchten Sadhus, Bettlern, Gefolgsleuten der verschiedensten Gottheiten und vereinzelten, herumirrenden Touristen. Verkäufer preisen aus Löchern in den Wänden Goldarmbänder, Heiligenbilder, Blumenopfer und anderes religiöses Zubehör dar.
In Kochtöpfen brodelt süßer Chai, ölgefüllte Pfannen knistern mit frittierten Teigwaren und in Vitrinen liegen zuckrige Gebäckteilchen. Dazwischen tummeln sich gemächliche Kühe, struppige Streuner und bockige Ziegen. Fenster und Balkone sind vergittert, damit die listigen Affen nichts dahinter klauen können. Mit jedem schwülen Luftzug wechseln sich die Gerüche ab, Räuchereien aller Art wabern durch die Gassen, innerhalb einer Minute wechseln sich hier Parfüm, knusprige Backwaren, verbranntes Sandelholz und leckere Bratgerüche ab.
Aber genauso häufig begegnen den Sinnen Fäkalien, Schweiß und faulende Abfälle. Spiritueller Zauber und Ekelgefühle sind hier oft keine Armlänge voneinander entfernt. Man weiß nie, was einen hinter der nächsten Ecke erwartet: Ein kleiner versteckter Tempel oder ein pockenübersäter Bettler. Ein bunter Blumenhändler oder ein toter Straßenhund. Ein paar spielende Kinder oder ein Haufen in die Ecke geworfene Tiergedärme.
Religiöse Waschungen an den Ghats
Wer sich durch die kleinen Gassen nach Osten gekämpft hat, findet die wichtigste Station eines hinduistischen Lebens: Den Ganges. An den Ghats – ins Ufer gehauene Treppenstufen – sammeln sich Pilger und Gläubige, um abendliche Lichtzeremonien abzuhalten und sich im Wasser zu baden. Dabei bespritzen sie sich gegenseitig, brennen Räucherstäbchen ab und bewerfen sich mit Heilpflanzen.
Touristen sollten von der jahrtausendealten Tradition allerdings Abstand nehmen, denn der Fluss, der aus dem klaren Gebirgswasser des Himalayas entsprungen ist, ist auf seinem langen Weg durch Indien zu einem trüb braunen Strom geworden, in dem sich Abwässer und Keime tummeln. Grenzwerte für Krankheitserreger werden hier durchgehend um das Tausendfache überschritten.
Lokale Hindus pflegen zu behaupten, dass der Glauben der Schwimmer stärker ist als die Bakterien im Wasser. Wissenschaftlich geprägte Beobachter würden hingegen eher sagen, dass die Immunsysteme der Anwohner sich an das bakterienbefallene Wasser angepasst haben. Aber selbst Fundamentalisten geben zu, dass eine Krankheitsphase nach einem Bad im Ganges keine Seltenheit ist, besonders bei Pilgern, die aus der Ferne angereist kommen.
Der Fluss bringt Erlösung nach dem Tod
Für gläubige Hindus ist das Sterben in Varanasi ein Lebenstraum – oder besser gesagt ein Sterbenstraum. Denn wer hier seinen letzten Atemzug tut, soll nach dem Tod ewigen Frieden finden. Im Hinduismus ist der Tod – wie im Buddhismus – ein Übergang von einem Leben in das nächste. Je nachdem wie jemand sich zu Lebzeiten verhalten hat, hat er positives und negatives Karma angesammelt und kann als Mensch, Tier oder Pflanze wiedergeboren werden. Dieser Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt – genannt Samsara – kann allerdings durchbrochen werden, wenn jemand ein besonders reines Leben geführt hat. Dann gelangt er ins Himmelsreich und erlebt Moksha.
Hindus glauben aber auch, dass sie über Varanasi und den Ganges Moksha erlangen können. Dafür müssen sie in der heiligen Stadt Varanasi sterben, die deshalb in früheren Zeiten auch Kashi genannt wurde, was mit Stadt des Lichtes oder Erleuchtung übersetzt wird. Ein anderer, heute noch gebräuchlicher Name für Varanasi ist Benares. Hier gibt es speziell für alte und kranke Menschen Hospizgebäude, in die sie sich einweisen können. Wer diese Gelegenheit nicht wahrnehmen kann, der muss sich darauf verlassen, dass seine Familie ihn nach seinem Tod per Feuerbestattung zum Licht führt.
Asche zu Wasser
Die meisten Leichenverbrennungen finden am Manikarnika Ghat statt, wo das wohl älteste noch aktive Krematorium der Welt steht. Am Eingang des heiligsten aller Ghats türmen sich riesige Haufen Brennholz auf. Das Krematoriumsgebäude ist ein offenes Steinhaus mit vier aschfahlen Schloten auf dem Dach. Verstorbene der höheren Kasten werden in der oberen Etage in speziellen Metallvorrichtungen verbrannt, der Großteil der Gläubigen endet direkt am Flussufer. Steigt der Wasserpegel in der Regenzeit zu hoch, werden die Verbrennungsrituale auf das Hausdach verlegt.
Um einen Menschenkörper zu Asche zu machen, braucht es etwa 80 Kilo trockenes Holz. Die Bestatter schichten die Scheite zu einem Block auf und legen den verhüllten Körper darauf. Darüber kommen einige Späne, die der Haupttrauernde dann entzündet. Die Glut dafür kommt aus Shivas Feuer, das laut den Menschen hier seit 3.500 Jahren nicht erloschen ist.
Für die westliche Welt eine schwer verständliche Tradition
Maximal drei Stunden dauert es, bis ein Körper vollständig verbrannt ist. Oft bleiben einzelne Knochen wie Brustkorb und Hüfte übrig, welche zusammen mit der Asche unter den Augen der Angehörigen im Fluss entsorgt werden. Die Trauergemeinde besteht hier allerdings nur aus Männern. Noch heute macht das strenge Kastensystem es Witwen fast unmöglich, nach dem Tod ihres Mannes gesellschaftlichen Anschluss zu finden. Früher wurden die Ehefrauen daher gleich mit auf den Scheiterhaufen ihres Mannes geworfen. Diese Tradition der Witwenverbrennung ist inzwischen illegal. Um zu verhindern, dass die Ehefrauen der Verstorbenen sich nicht aus purer Verzweiflung mit ins Feuer werfen, ist Frauen die Teilnahme an der Zeremonie generell untersagt.
Einige Personengruppen müssen den Hindus zufolge keinen Verbrennungsprozess durchmachen: Kinder, schwangere Frauen, Opfer von Kobrabissen (Shivas Lieblingstier) und Leprakranke werden nach ihrem Tod hier direkt dem Wasser übergeben. Wer also auf einer der beliebten Ganges-Bootstouren im Fluss einen vorbeitreibenden Menschenkörper erspäht, kann davon ausgehen, dass dieser einmal zu einer dieser Gruppen gehört hat.
Die Rituale und Traditionen hier haben die Jahrtausende überlebt, weltliche Besucher aus dem Westen stehen dem meist mit einer Mischung aus Faszination und Unverständnis gegenüber. Viele der Menschen hier leben nicht viel anders als vor hunderten von Jahren, als der Ganges noch nicht so dreckig war. Fortschritt ist an vielen Ecken noch ein Fremdwort, auch wenn viele der Fanatiker selbst hier schon an ihr Smartphone angebunden scheinen. Wird sich hier jemals etwas ändern, am Kreislauf von Leben, Leid, Tod und Verbrennung am Fluss? Jain, der hier geborene Touristenführer hat seit seiner Geburt kaum Veränderung wahrgenommen: „Wer in Varanasi ist, weiß, was er am Leben hat“, sagt er und damit hat er Recht.